Wir stehen alle auf den Schultern unserer Vorfahren
von Jürgen Seitz
Willy Brandt Gesamtschule! Ich bin stolz auf diesen Namen, wirklich. Als Willy Brandt 1969 Kanzler wurde, war ich 15 Jahre alt. Alle in meiner Familie waren glücklich. Einer von uns war Kanzler geworden, endlich.
24 Jahre nach dem Krieg war Deutschland nämlich noch immer ein Land voller Exnazis. Zwar war der blinde Glaube an Hitler 1945 zerbrochen, aber es gab viele Leute, die meinten, Hitlers größter Fehler sei gewesen, den Krieg zu verlieren. Wir aber waren froh, dass er den Krieg verloren hatte!
Willy Brandt war Widerstandskämpfer gewesen. Und er stand als Sozialdemokrat auf der Seite der „kleinen Leute“. Er war einer von uns. Mit 15 fängt man an, darüber nachzudenken, wer man ist, und wer man sein will!
Mit 17 sahen wir im Unterricht live im Fernseher, wie das Misstrauensvotum gegen Brandt im Bundestag scheiterte.
Mit 18 durfte ich zum ersten Mal wählen. Meine Schwester war 21 und durfte auch zum ersten Mal wählen, denn Brandt hatte das Wahlrecht auf 18 Jahre vorverlegt. Na klar, bei der Jugend hatte er eine satte Mehrheit. Ich lief mit einem „Willy wählen“-Button herum, auch in der Schule.
Inzwischen war Brandt im kalten Dezember 1970 in Polen gewesen, um endlich Frieden zu schließen. Keinen richtigen Friedensvertrag, aber die Anerkennung der polnischen Grenzen. Am Mahnmal für die ermordeten Juden von Warschau sollte er einen Kranz niederlegen, was Politiker so machen. Er aber ging auf die Knie. Eine Geste von unglaublicher Wucht.
Zu Hause waren nicht alle dafür. Die CDU wollte die polnischen Grenzen nicht anerkennen. Die Neonazis schrieben: „Willy Brandt — an die Wand“. Die selben Leute, deren Väter Auschwitz gebaut hatten, forderten auf, Brandt zu töten. Deren Söhne (und Töchter) heute Migranten ermorden. Ob es leibliche Väter und Söhne sind, weiß ich nicht, aber es ist eine geistige Verwandtschaft. Übel.
Dieser Kampf ist niemals zu Ende. Jede Generation muss erneut darüber nachdenken, wer sie sein will.
In Auschwitz kann man das tun. Oswiecim heißt der Ort heute. Er liegt in Polen. Aber als Auschwitz der Ort des größten Konzentrationslagers und des größten Massenmords der Geschichte war, da war Auschwitz deutsch.
Größe allein ist aber kein Argument. Auschwitz ist ein Symbol. Ein Symbol für Unmenschlichkeit.
Auschwitz ist ein Museum. Man kann hinein. Man sieht etwas. Man fühlt etwas.
Ohne Krieg kein Auschwitz. Ohne Hass und Verachtung kein Krieg. Dagegen setzen wir Achtung und Verständigung. Besonders mit Polen.
Seit dem Jahr 2000 fährt jährlich eine freiwillige Gruppe von Schülerinnen und Schülern der WBG nach Auschwitz. Die Initiative ging seinerzeit vom Elternvertreter Wolfgang Scharping aus. In den ersten Jahren waren Helga Rohe und Ina Frings die Organisatorinnen. Dreizehn Fahrten bisher. Wir fahren nicht nur als Touristen; wir nehmen teil an den Gedenkfeiern im Januar. Wir lassen unsere Blumen da. Und unsere Gedanken.